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China: Die Angst vor dem Gesichtsverlust

 

Thomas Wagner ist fassungslos. Die Lieferung der neuen Kugellager war für heute fest eingeplant. Doch nun – nichts. Wie sollte er das nur seinem Chef erklären? Ohne die Teile konnten sie nicht in die Endmontage gehen und die Kundentermine nicht einhalten – eine Katastrophe. Dabei hatte er mit seinen Kollegen in Peking doch alles ganz genau besprochen; sie hatten ihm versichert, dass die georderten Kugellager rechtzeitig in Deutschland sein würden…

 

Was ist hier passiert? Eigentlich schien alles klar zu sein, doch letztendlich zeigt sich, dass es kein gemeinsames Verständnis bezüglich des Liefertermins gab. Immer wieder berichten mir deutsche Führungskräfte, dass es schwer sei, mit ihren Kollegen in China eine Einigung zu erzielen. Oft würde „Ja“ gesagt, aber „Nein“ gemeint. Dass in China niemand eine Bitte oder Deadline offen verneinen würde, wird oft erst nach den ersten teilweise schmerzhaften Missverständnissen begriffen – wenn Deadlines, Liefertermine oder andere Absprachen nicht eingehalten wurden.

 

Die deutschen Kollegen hören uns einfach nicht richtig zu, erzählen mir auf der anderen Seite die Führungskräfte aus China. Oftmals nehme man sich keine Zeit, um eine stabile Geschäftsbeziehung zu entwickeln; stattdessen herrsche Aktionismus, Zeitdruck würde aufgebaut. Bei Missverständnissen werde kaum innegehalten, sondern der Druck noch mehr erhöht. Sprachbarrieren und die Unsicherheit, mit den kulturellen Unterschieden umzugehen, tun ihr Übriges.

 

Sprachbarrieren und die Unsicherheit,
mit den kulturellen Unterschieden umzugehen

 

„Sobald sich in einer Telefonkonferenz eine kurze Pause ergibt, kann ich sicher sein, dass mein Kollege aus Deutschland die Stille mit weiteren Informationen seinerseits füllen wird. Dabei brauche ich viel mehr Zeit, um alle Informationen erst einmal zu verarbeiten, in meine Sprache zu ,übersetzen‘ und alle Erwartungen zu verstehen. Außerdem empfinde ich es als unhöflich, als Erster zu sprechen und warte immer bis zum Schluss, bis ich etwas sage.“ Dies berichtete mir ein Mitarbeiter aus Peking. Stattdessen werde er von seinen Kollegen als „viel zu ruhig und zurückhaltend“ wahrgenommen und im schlimmsten Falle gar nicht richtig ernst genommen.

 

Der nächste Tag, Telefonkonferenz mit den chinesischen Kollegen. „Wissen Sie eigentlich, was Sie uns mit dieser verspäteten Lieferung angetan haben? Das kann doch wirklich nicht Ihr Ernst sein!“, so Thomas Wagner aufgebracht. Aber sein Kollege am anderen Ende der Leitung schweigt. Dann lacht er. Wie kann man nur so reagieren? fragt sich Wagner. Wir stehen hier vor einem schwerwiegenden Problem. Doch Li Wang wiegelt ab und bittet darum, das Thema lieber morgen gemeinsam mit seinem Chef zu besprechen. „Morgen? Wir müssen jetzt eine Lösung finden!“

 

Gesichtsverlust ist ein großes Thema in China. Offen geäußerte Kritik und negatives Feedback werden als Affront gewertet und führen dazu, dass sich alle Beteiligten peinlich berührt fühlen. Um sein Gesicht vor den anderen Kollegen nicht zu verlieren und auch das Gesicht von Thomas Wagner zu wahren, reagiert Li Wang scheinbar merkwürdig. Doch durch sein Lachen und Abwiegeln versucht er, die Situation zu entschärfen. Wichtig ist außerdem, dass bei solch einer Konfliktklärung und der Frage nach den Verantwortlichkeiten immer der Chef involviert ist und die Hierarchie berücksichtigt wird.

 

Die Hierarchie wird stets berücksichtigt

 

Wie lässt sich also eine wirksame Zusammenarbeit zwischen deutschen und chinesischen Mitarbeitern gewährleisten? Neugier und Wertschätzung sind zwei der wichtigsten Faktoren. Oft nehme ich wahr, wie Führungskräfte aus Unsicherheit heraus in Aktionismus verfallen und sich keine Zeit nehmen, um den wichtigen Beziehungsaufbau zu gestalten. Doch genau das bräuchte es am Anfang, um die potenziellen Missverständnisse und Konflikte zu entschärfen. Es ist „erlaubt“, ja sogar gern gesehen, wenn man Fragen stellt: Wie läuft das denn eigentlich bei Euch? Was ist Euch wichtig in der Zusammenarbeit? Wie können wir gewährleisten, dass wir ein gemeinsames Verständnis vom Projekt haben? Wie gehen wir mit Fehlern um? Stellen Sie offene Fragen, bei dem Ihr Gegenüber im Detail erklären muss, was sein Verständnis ist.

 

Mit Neugier und dem notwendigen „Schritt zurück“ können Sie nach und nach der Falle entkommen, dem Neuen oder Fremdartigen mit Ablehnung und Abwehr zu begegnen. Es kann für beide Seiten sehr bereichernd sein, die tiefliegenden kulturellen Gründe hinter gewissen Verhaltensweisen zu verstehen und somit mit mehr Sicherheit und Wertschätzung den Herausforderungen der Zusammenarbeit zu begegnen.

 

 

DIE AUTORIN
Susanne Stock arbeitet seit Jahren als systemische Beraterin und Führungskräfte-Coach. Nach dem Studium der Psychologie mit den Schwerpunkten Arbeits- und Organisationspsychologie folgte eine mehrjährige Tätigkeit als Projektleiterin in einem global operierenden Konzern, wo sie für die Konzeption und Durchführung globaler Entwicklungsprogramme für Führungskräfte aller Hierarchieebenen verantwortlich war. Susanne Stock hat langjährige Beratungs- und Trainingserfahrung mit multikulturellen und virtuellen Teams. Für die Durchführung von Führungskräfte-Workshops reist sie regelmäßig nach Asien, in die USA und Europa. Für den Wirtschaftsstandort schreibt Susanne Stock regelmäßig zum Thema Führungskräfte-Coaching.

 

KONTAKT
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susanne.stock@leadroom.de